Aktuell HodenHodenkrebs Von der Größe einer Murmel

Von der Größe einer Murmel

von menscore
Fachliche Beratung: Ärztliche Redaktion
© Thaut Images - Fotolia.com
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Es ist Hodenkrebs! Mit 35 Jahren sieht sich Ulrich Roth* plötzlich mit dieser Diagnose konfrontiert. Zwischen erstem Verdacht und Operation liegen nur wenige Tage, in denen der Familienvater eine emotionale Achterbahn durchlebt. Hier beschreibt er sie.

Noch vor fünf Tagen habe ich an unserem neuen Haus gebaut. Mit dem jüngsten haben wir jetzt vier Kinder und brauchen mehr Platz. Jetzt sitze ich auf einem Krankenhausbett, allein in einem Zweibettzimmer. Morgen früh soll der linke Hoden herausgenommen werden. Mir. Wegen Hodenkrebs. Das sage ich mir immer wieder selbst, weil diese Nachricht mich noch gar nicht richtig erreicht hat. Werde ich aus meinen Gedanken gerissen, erschrecke ich mich immer wieder darüber, in einer Klinik zu sein.

Dabei wollte ich auf der Baustelle besonders vorankommen. Aber daraus wurde nichts. Ein fieser Schmerz im Skrotum hinderte mich am Hocken, Stehen und Gehen. Erst dachte ich, ich hätte mir was entzündet. Stundenlang bis zur Hüfte auf der Baustelle in kaltem Wasser stehen – da kann das schon mal passieren. Als ich hinfühlte, stellte ich am linken Hoden etwas Hartes, Fremdartiges fest, etwa so groß wie eine Murmel – anders als am rechten. Danach habe ich ständig hingetastet. Und mir war, als hätte sich der Knubbel in den paar Tagen vergrößert, und der Hoden tat mehr weh. Wahrscheinlich weil ich immer neugierig hingefasst und getastet habe – so, wie man mit der Zunge ständig einen schmerzenden Zahn berührt.

Am Freitag bin ich direkt zum Urologen. Der Arzt tastete die Hoden erst mit den Händen ab und hielt einen Schallkopf auf beide Hoden. Und ich dachte, er würde Entzündung sagen und mir Antibiotika verschreiben. Davor graute es mir schon, weil ich Antibiotika nicht gut vertrage. Aber er sagte: „Vielleicht ist es etwas anderes, aber vielleicht ist es auch Hodenkrebs“. Uff. Während er für mich einen Termin für Montag im Krankenhaus machte, und auch das ganze folgende Wochenende habe ich versucht, nicht an das zu denken, was er gesagt hatte.

Tastuntersuchung, Ultraschall der Hoden und Nieren, Röntgen der Lunge und Blutuntersuchungen haben die Verdachtsdiagnose bestätigt. Und irgendwie habe ich das Gefühl, als hätte ich seit meinem Besuch beim Urologen bis jetzt die Luft angehalten und atme erst jetzt richtig durch, wo ich Gewissheit habe. Denn die Ungewissheit übers Wochenende war am Schlimmsten. Ich war wie aufgespannt zwischen der Hoffnung, den Hoden zu behalten und der Angst, die man nicht benennen kann. Die Frage, die mir ständig im Kopf kreiste, lautete: „und was dann?“. Man kann auch mit einem und sogar ganz ohne Hoden leben, oder nicht? Kann man das wirklich? Unser Kinderwunsch ist abgeschlossen, aber was ist mit der Hormonproduktion und der Sexualität?

Aber das sind nicht meine einzigen Sorgen. „Wo bleibt meine Frau mit den Kindern? Kann sie allein das Haus halten? Ich habe eine Lebens- und eine Berufsunfähigkeitsversicherung, aber werden die auch zahlen?“. An diesem Punkt steige ich aus der Gedankenspirale aus, die mir fast die Luft zum Atmen nimmt. Vielleicht erweist sich der Knubbel nach der Operation als etwas anderes. Erst dann wird das verdächtige Gewebe ja tatsächlich untersucht. Immerhin hatte ich Schmerzen, das ist für Hodenkrebs absolut ungewöhnlich. Und wenn nicht? Gott, es darf nicht sein, dass ich zu den unheilbaren zwei Prozent gehöre! Ich bin doch erst 35! Ich habe Angst. Wie werde ich mich fühlen, wenn ich aufwache? Schon bin ich wieder drin in der Gedankenspirale. Und auf einmal ist es mir fast egal: raus das Ding, zu den 98 Prozent gehören, die überleben – nur das zählt jetzt!

Jetzt ist der linke Hoden samt dazugehörigem Samenstrang entfernt. Ich fürchte den Moment, in dem ich hinfasse und nur einen Hoden fühle – eine Silikonprothese wollten meine Frau und ich nicht. Aber man gewöhnt sich daran.

Noch vor ein paar Monaten hatte ich daran gedacht, zur Vorsorge zu gehen. Aber wie das so ist: es gibt Tausende von Dingen, die angenehmer sind, als vor einem Fremden die Hosen herunterzulassen und am Hodensack befühlt zu werden. Das selber Tasten will auch gelernt sein. Der rechte Hoden, weil er größer ist und tiefer hängt als der linke, fällt er als erster in die Hand, der linke schmiegt sich an ihn. Wahrscheinlich habe ich ihn deshalb nicht so gründlich abgetastet wie den rechten.

Ich habe wirklich Glück gehabt. Ohne die Schmerzen wäre ich nicht zum Arzt gegangen, auch dann nicht, wenn ich den Knoten getastet hätte. Offenbar hat der Krebs auch noch nicht gestreut. Ein verdächtig vergrößerter Lymphknoten nahe meiner linken Niere ist in den acht Wochen seit der Operation wieder kleiner geworden. Als der Arzt das sagt, wirkt er erleichtert. Ich gelte jetzt als geheilt.

* Name von der Redaktion geändert

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